Kein Land in der Welt fördert mehr Braunkohle als Deutschland. Die Folgen sind katastrophal. Doch bereits erste zaghafte Änderungen stoßen auf heftigen Widerstand. Ein Artikel von Markus Dobstadt aus der Zeitschrift Publik-Forum vom 24.07.2015, den wir aus aktuellem Anlass freundlicherweise veröffentlichen dürfen.
Von Markus Dobstadt
Die Bäume sind schon gefällt. Fast alle Häuser des kleinen rheinischen Ortes Borschemich sind verlassen, die Rollläden heruntergelassen, die meisten Bewohner umgesiedelt. In zwei Jahren will der Energiekonzern RWE die Braunkohle unter Borschemich abbaggern. Der Ort ist ein Geisterdorf, mitten in Europa. Nicht das einzige.
Seit Jahrzehnten fallen an den drei großen deutschen Abbaugebieten im Rheinland bei Köln, in der Lausitz bei Cottbus und im Mitteldeutschen Revier zwischen Leipzig und Halle immer wieder ganze Dörfer der Braunkohle zum Opfer. Mehr als 300 sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts verschluckt worden, rund 110 000 Menschen mussten bislang ihre Häuser, Höfe, Arbeitsstätten, ihre Kirchen, Vereinsheime und Felder, ihre über Jahrzehnte vertraute Heimat, aufgeben. Im Abbaugebiet bei Cottbus ist auch die sorbische Minderheit betroffen. Riesige Löcher entstanden, im rheinischen Abbaugebiet Garzweiler könnte eine Fläche der Größe von Paris verschwinden. Inzwischen ist ein Gebiet, das fast viermal so groß ist wie der Bodensee, unmittelbar von dem Abbau betroffen. Eine Rückkehr der Menschen ist unmöglich, denn nach dem Abbau finden die früheren Bewohner bis zu 450 Meter tiefe Gruben vor, die bis an den Horizont reichen, oder, nach der Renaturierung, oft versauerte Seen ohne Leben. Es ist ein Drama.
Doch lange Zeit war es nur für die Betroffenen ein Drama. Durch den Klimawandel ist das anders geworden. Der Abbau und die Verbrennung von 183 Millionen Tonnen Braunkohle pro Jahr in Deutschland fallen auch im weltweiten Maßstab ins Gewicht. Kein anderes Land fördert – in absoluten Zahlen – mehr von dem klimaschädlichsten aller fossilen Energieträger. Und keines erzeugt damit mehr Strom.
Die Emissionen schaden zudem der Gesundheit. »Kohlekraftwerke sind lautlose Killer«, heißt es in einer Studie über Braunkohleverbrennung, die an der Universität Stuttgart im Auftrag von Greenpeace angefertigt wurde. »Ihre Schwefeldioxid-, Stickoxid- und Staubemissionen bilden in der Luft Feinstäube. Diese Partikel von unter 2,5 Mikrometern (das ist ein Zwanzigstel des Durchmessers eines Haares) sind klein genug, um tief in die Lunge einzudringen.« Die Folge: Ein erhöhtes Risiko, »Atemwegserkrankungen, Herzinfarkte, Lungenkrebs, Asthmaanfälle und andere gesundheitliche Schäden zu erleiden«, heißt es weiter. Die Studie kommt zu dem Ergebnis: »Insgesamt führten die Emissionen der größten deutschen Kohlekraftwerke im Jahr 2010 zum Tod von ungefähr 3100 Menschen.« Zusätzlich hätten Krankheiten und gesundheitliche Probleme aufgrund von Kohlekraftwerksverschmutzung schätzungsweise 700 000 verlorene Arbeitstage verursacht.
Gefahr für unser Trinkwasser
Und nicht nur CO2 und Feinstäube sind ein Problem. Deutschlands Braunkohlekraftwerke pusten jedes Jahr mehr als 3500 Kilogramm Quecksilber in die Luft. Das ist rund die Hälfte der deutschen Emissionen dieses giftigen Stoffes, der bei Babys, Kleinkindern und Schwangeren schwere Nervenschäden hervorrufen kann, sagt die Umweltorganisation Greenpeace. Sie hält die deutschen Grenzwerte für viel zu niedrig. Auch für das Trinkwasser können die Tagebaue gefährlich werden. Die Spree ist so stark mit Sulfaten, Verbindungen aus Schwefel und Sauerstoff, belastet, dass dies zum Problem für die Trinkwassergewinnung in Berlin werden könnte.
Dennoch boomt die Braunkohle. Da der europäische CO2-Emissionshandel nicht funktioniert, ist sie billig – und noch dazu im Übermaß vorhanden. Es lagern allein in Deutschland noch mehr als 34 Milliarden Tonnen im Boden. Selbst wenn das Land die nächsten einhundert Jahre so weitermachen würde wie bisher, wären die Vorräte noch lange nicht erschöpft.
Gewerkschaften klammern sich an Kohle
Und schließlich: Braunkohle schafft Arbeit. Darauf wurde in dem aktuellen Streit um eine Klimaabgabe für die ältesten Kohlemeiler besonders von den Gewerkschaften hingewiesen. Umstritten ist allerdings, wie viel Arbeit sie schafft. Als Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) seine Pläne verkündete, eine Abgabe für die ältesten Braunkohlekraftwerke einzuführen, um damit die Kohlendioxid-Emissionen der rund 500 fossilen Kraftwerke in Deutschland zu senken, hagelte es Kritik.
Ver.di-Chef Frank Bsirske befürchtete den Verlust von 100 000 Arbeitsplätzen, RWE warnte vor dem Aus für 30 000 Arbeitsplätze. Dabei weist der Bundesverband Braunkohle Debriv für 2014 gerade mal 21 400 in der Branche Beschäftigte aus. Das Bundesumweltamt erklärte, Bsirskes Zahl entbehre »jeder Grundlage«. Erwartbar sei, dass 4700 Arbeitsplätze im deutschen Braunkohlesektor verloren gingen.
Umweltverbände werfen den Gewerkschaften hingegen vor, die Zukunft zu verschlafen. Greenpeace-Energieexpertin Neubronner sagte: Statt den unausweichlichen Strukturwandel weg von der Kohle hin zu den Erneuerbaren aktiv zu gestalten und den Arbeitnehmern eine langfristige Zukunft zu eröffnen, klammerten sich die Gewerkschaften an die Kohle. Die Umweltverbände begrüßten die geplante Abgabe und fordern einen kompletten Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030.
Monatelang wogte der Streit hin und her. Mehrere offene Briefe an Gabriel und Merkel wurden formuliert – von Kommunalpolitikern, Stadtwerken, Wissenschaftlern, die sich für die Abgabe einsetzten. Vergebens. Wirkung zeigte vor allem der Protest der Gewerkschaften, Konzerne und Politiker aus den Braunkohle-Bundesländern. Gabriel senkte zunächst die vorgesehene Menge einzusparenden Kohlendioxids. Das sollte durch eine stärkere Förderung umweltfreundlicher Kraft-Wärme-Kopplungskraftwerke wettgemacht werden. Dann kippte er die Abgabe-Pläne ganz. Stattdessen sollen alte Braunkohle-Blöcke früher vom Netz genommen und nur bei Bedarf wieder hochgefahren werden; die Betreiber erhalten eine Entschädigung, Berichten zufolge 230 Millionen Euro pro Jahr. »Das ist ein fauler Kompromiss zulasten des Klimaschutzes, der horrend teuer wird. Der ursprünglich geplante Klimabeitrag hätte die klimapolitisch notwendige CO2-Minderung zu einem Bruchteil dieser Kosten erbracht«, kritisiert der Vorsitzende des Bundes für Umwelt und Naturschutz, Hubert Weiger.
CO₂ reduzieren muss Gabriel, sonst lassen sich die Klimaschutzziele der Bundesregierung nicht mehr erreichen. Die Kohlendioxidemissionen sollen bis 2020 um vierzig Prozent sinken, verglichen mit dem Jahr 1990. Erst 27 Prozent sind bislang geschafft. Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte kürzlich beim G7-Gipfel die Bedeutung des Klimaschutzes. Und die wichtigsten Staatschefs bekräftigten, eine Welterwärmung von mehr als zwei Grad verhindern zu wollen. Sie beschlossen den vollständigen Verzicht auf fossile Energieträger noch im 21. Jahrhundert. Das würde auch das Aus für die Braunkohleverstromung bedeuten. Merkel hat Gabriel gleichwohl in Sachen Kohle-Abgabe nicht unterstützt.
Kohle unter der Erde lassen
Wenn der G7-Beschluss ernst gemeint ist, bedeutet er einen kompletten Umbau der Weltwirtschaft mit gewaltigen Konsequenzen. Es würde auch bedeuten, zwei Drittel der Reserven an Öl, Kohle und Gas unter der Erde zu lassen, um durch die Verbrennung die Welt nicht weiter aufzuheizen. Doch Gipfelbeschlüsse sind das eine. Die Praxis sieht meist anders aus.
Dabei wäre entschiedenes Handeln nötig. Denn der Klimawandel schreitet in beängstigendem Maße voran. 2014 war das wärmste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen. Weltweit steigen die Emissionen kontinuierlich an und erreichen Höchstwerte. Wissenschaftler sagen, dass die Welt noch tausend Gigatonnen Kohlendioxid emittieren dürfe, um das Zwei-Grad-Ziel nicht zu verfehlen. Das wäre nach jetzigem Ausstoß in den 2030er-Jahren erreicht. Im Herbst, wenn ein neues Weltklimaabkommen verabschiedet werden soll, zeigt sich, wie sehr die Staaten zur Veränderung bereit sind.
Dass es bei der Kohle auch anders geht, führen ausgerechnet China und die USA vor. China, das unter der starken Luftverschmutzung leidet, baut Wind- und Solarenergie rasant aus und drosselt den Kohleverbrauch; plant allerdings auch 26 neue Atomkraftwerke. Das Land der Mitte sowie die USA, die vom Fracking-Gas profitieren, haben zudem deutlich schärfere Grenzwerte für den Schadstoffausstoß als die Europäische Union, die gerade neue Werte festlegt. Die sollen ab 2020 gelten. Doch Giftstoffe wie Quecksilber und Feinstaub, die durch die Schornsteine entweichen, will sie weiterhin kaum begrenzen.
Dass sich die Konzerne RWE und Vattenfall gegen eine Reduzierung der Kohleverstromung wehren, ist aus ihrer Sicht verständlich. Durch die große Menge an Ökostrom sinken die Strompreise. 2014 wurde erstmals mehr Strom aus erneuerbaren Quellen erzeugt als aus Braunkohle. Die Energiekonzerne verdienen dadurch weniger und stehen mit dem Rücken zur Wand. »Die wirtschaftliche Situation in der konventionellen Stromerzeugung ist dramatisch«, sagte kürzlich RWE-Konzernchef Peter Terium. Rund 35 bis 45 Prozent der konventionellen Kraftwerke erzielten keine Gewinne mehr. RWE schiebt einen gigantischen Schuldenberg von rund 31 Milliarden Euro vor sich her. Die Entwicklung birgt auch Gefahren für den Steuerzahler. Wer käme für die Renaturierung der Tagebaue auf, wenn RWE pleitegeht? Unter Druck gerät die Branche auch durch die weltweite Divestment-Bewegung, die Kapitalanleger dazu aufruft, ihr Geld nicht mehr in der fossilen Energiebranche anzulegen.
Bereits 180 Staats- und Pensionsfonds, Versicherungen, Stiftungen und institutionelle Großanleger haben Geld aus dem fossilen Sektor abgezogen. Entsprechende Beschlüsse haben auch die Anglikanische Kirche und der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) gefasst. Der ehemalige südafrikanische Erzbischof und Nobelpreisträger Desmond Tutu ruft zu einem »Boykott der fossilen Brennstoffindustrie im Stile des Anti-Apartheid-Kampfes« auf. Auch die französische Axa-Versicherung und der milliardenschwere norwegische Pensionsfonds haben entschieden, Geld aus dem fossilen Bereich abzuziehen. Das ist viel und ist doch nicht genug. Denn nach Angaben des Londoner Thinktanks Asset Owner Disclosure Project sind im Fossil-Bereich insgesamt mehr als dreißig Billionen US-Dollar angelegt.
Würden in Deutschland etliche alte Kohlekraftwerke abgeschaltet, ginge deshalb keine Glühlampe aus. Denn hierzulande wird mehr Strom produziert als verbraucht. 2013 wurde ein Ausfuhrüberschuss von 35 Milliarden Kilowattstunden erzielt. Die Kohlemeiler stillzulegen wäre also eigentlich kein Problem. Doch solche Szenarien sind der Alptraum für die Manager von RWE und Vattenfall, die großen Tagebau-Betreiber in Deutschland. RWE stemmt sich mit Macht dagegen. Vattenfall hingegen scheint umzuplanen. In der Lausitz sind die Vorbereitungen für die Umsiedlung von Einwohnern im geplanten neuen Abbaugebiet Nochten II gestoppt, für Welzow-Süd II wird ein Stopp der Vorbereitungen geprüft. Grund seien die »unsicheren politischen Rahmenbedingungen für den Braunkohlebergbau«, sagte ein Sprecher. Im Herbst hatte Vattenfall angekündigt, seine deutsche Braunkohle-Sparte verkaufen zu wollen.
Der Wind weht immer stärker aus der Richtung der erneuerbaren Energien. Früher oder später werden die Arbeitsplätze in der Kohleindustrie also wegfallen. Jetzt wäre noch Zeit dafür, Alternativen zu entwickeln. Denn auch die erneuerbare Stromerzeugung schafft Arbeitsplätze: 2013 existierten in dieser Branche rund 370 000 Jobs. Einer Studie zufolge könnten bei einer forcierten Energiewende bis 2030 circa 100 000 Stellen neu geschaffen werden. Bei traditionellen Energieversorgern würden bis 2020 rund 16 000 Arbeitsplätze wegfallen. Der Umbruch kommt, früher oder später. Für die Bewohner von Borschemich kommt diese Entwicklung allerdings zu spät. __
Quelle: Publik-Forum, kritisch – christlich – unabhängig, Oberursel, Ausgabe 14/2015
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