(Die Glosse) Just zu Ostern entdeckte eine aufmerksame Bonnerin die grüne Seele Bonns. An der Wand des neu gebauten Maxmilianscenters am Hauptbahnhof – demnächst die Bonner Primark-Filiale – haben Architekten ein wahres Wunder vollbracht. Auf wenigen Quadratmetern machen sie Bonn auf einen Schlag CO2-neutral. „Glaube versetzt Berge“, kommentiert ein vorbeieilender Bauingenieur staunend, der nach eigenen Angaben Experte auf dem Gebiet ist.
Die Gebäude mit dieser hocheffizienten Begrünung werden im Fachjargon auch „Green Soul“ genannt. Sie sorgen für die Umwandlung der klimaschädlichen Treibhausgase in gesunden Sauerstoff. Die kleine Fläche diene damit quasi als vertikale Frischluftschneise. So könnten ganz unbekümmert weitere Flächen im Umland von Bonn großflächig versiegelt werden, so z.B. der Ennert mit einer neuen Autobahn, das Messdorfer Feld oder die letzten innerstädtischen Freiflächen.
Klimaschutzprobleme elegant gelöst
Gerade erst hatte in Bonn die FridaysForFuture-Bewegung die Einhaltung der Klimaschutzziele gefordert. Eine Gruppe Bonner Bürger*innen brachte jüngst einen Bürgerantrag ins Gespräch, um in Bonn den Klimanotstand ausrufen zu lassen. All das wird jetzt überflüssig.
Von den jetzt bekannt gewordenen Neuigkeiten dürften sie alle überrascht sein. Lange wurde gerätselt, warum der Stadtrat im Eiltempo die neue Überbauung des Bahnhofsvorplatzes beschloss und die Vorschläge der Bürger*innen weitestgehend ignorierte. Nun ist es Ostersonnenklar: Die Bauherren wollten es den Bürger*innen selber überlassen, dieses tolle Überraschungsei zu finden.
„Urban Soul“ im Norden und „Green Soul“ im Süden: Die neue Überbauung des Bahnhofsvorplatzes beeindruckt mit Tausenden Quadratmetern Einkaufsfläche, wenig öffentlichem Raum und keinem Konzept für Radfahrerinnen und Fußgänger. Während der Bauarbeiten waren zwischenzeitlich die alten, hässlichen Gründerzeit-Fassaden gegenüber dem Hauptbahnhof zu sehen. Fast kam das irritierende Gefühl eines luftigen und ausladenden Bahnhofsvorplatzes auf, wie es in anderen Städten durchaus üblich ist.
Wirtschaftsförderung auf internationalem Niveau
Ideen eines Stadtwaldes oder einer anderen alternativen Gestaltung des Platzes, wurden zum Glück wieder schnell verworfen oder gar nicht ernst genommen. Die am Hauptbahnof ankommenden Besucher erwarten schließlich ein urbanes, großstädtisches Flair und keine grüne Wohlfühl-Oase.
Viel wichtiger sei die internationale Vernetzung der sich neu ansiedelnden Filialisten Primark & Co. Sie stellen sich ihrer internationalen Verantwortung und zahlen ihre Steuern in Irland oder anderen Steueroasen und schaffen unzählige Arbeitsplätze in strukturschwachen Ländern des Globalen Südens.
Das ist Wirtschaftsförderung auf internationalem Niveau. Wer braucht schon regionale und mittelständische Unternehmen? Oder öko-faire Lieferketten? Die Fair Trade Town Bonn nun jedenfalls nicht mehr!
Aktivisti können ab sofort chillen
Der plötzliche Ausgleich der kommunalen CO2-Bilanz hat noch weitere Folgen: Freie Lastenradinitiativen, die sich zum Ziel gesetzt haben CO2-Einsparungen im Verkehrssektor zu erzielen können sich nun endlich wieder unpolitischen Freizeitvergnügen widmen. Oder dem SUV-Fahren. Auch die gerade stattfindende Schokofahrt nach Amsterdam, die immer mehr Aktivist*innen anzieht, könne abgebrochen werden. CO2-frei transportierte Schokolade wird aufgrund der umfassenden Kompensation ab Mai sicherlich auch in der „Green Soul“ verkauft.
Ein Student mit Sonnenbrille ließ durchblicken, dass er sich nun umso mehr auf den Sommer freut und hofft, dass dieser noch wärmer wird als der letzte. Die Klimaerwärmung sei nun zumindest in Bonn nicht mehr menschengemacht!
Update Januar 2020: Der Rat der Stadt Bonn hat drei Monate nach Erscheinen des Artikels tatsächlich den Klimanotstand ausgerufen und weitere vier Monate später sogar entschieden, bis 2035 klimaneutral werden zu wollen. Den Beschlüssen müssen nun Taten folgen (es ist ja Wahlkampf 😉
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Infos zum Bahnhofsvorplatz, dem Protest gegen Primark und den Arbeitsbedingungen von Näherinnen:
- Pro Bahnhofsvorplatz e.V.
- FEMNET e.V.
- bonnimwandel.de/tag/primark/
- bonnimwandel.de/tag/bahnhofsvorplatz/
- Verfallsdatum für Investorenarchitektur – Die Glosse
Foto: Andreas Rüther
Endlich verstehe ich auch, warum in der Poststraße alle und auf dem Münsterplatz fast alle Baumscheiben mit grauem Split abgedeckt sind: der freie Erdboden – vielleicht sogar bewachsen mit ein paar Grashalmen oder einem Gänseblümchen – würde die Klimabilanz total verfälschen !
Zum Glück hat das Amt für Stadtgrün auch eine weitere positive Maßnahme dieser Art schon durchgeführt: die kleine Grünfläche neben der Einfahrt zur Tiefgarage Kaufhof/Karstadt an der Budapesterstraße wurde schnell von wild wachsenden Blumen sowie lebenden Pflanzen befreit und mit groben Schottersteinen bestreut: eine waagerechte Wohlfühl-Oase mit guter CO2-Bilanz !
Als der hässliche Bauklotz, der davor da stand, abgerissen wurde, habe ich mich zunächst gefreut, weil ich dachte: Endlich ist das furchtbare Ding weg. Sehr schön beschrieben, in dem Artikel, denn genau so ging es mir auch: Vorübergehend habe ich gedacht, dass es toll ist, wenn man aus dem Bahnhof kommend, die schöne Häuserreihe sieht und man könnte dort doch einen Platz für alle Bürger/Einkäufer schaffen mit viel Grün und Bänken, Cafés, usw.usw.
Was dann an Realität kam, die jetzige Bebauung, hätte ich mir in meinen schlimmsten Träumen nicht vorstellen können. Ein Grauen. Hat jemand sehr richtig auch auf den Bauzaun gesprayt: Urban Soul ist eine seelenlose Katastrophe. Dem kann ich mich nur anschließen.