Ein Besuch bei den Waldschützer*innen im Hambacher Forst
„Mordor ist gar nicht mehr so weit von hier, dort hinten schimmert es schon durch die Äste“, sagt Lobo. Nein, wir sind nicht bei „Herr der Ringe“ in Mittelerde gelandet, sondern im Hambacher Forst. Und was hier als „Mordor“ bezeichnet wird, ist die gigantische Tagebaugrube für den Braunkohleabbau von RWE. Die Grube ist inzwischen mehr als 45 Quadratkilometer groß und bis zu 400 Meter tief; etwa 3.000 Menschen wurden bislang durch den Tagebau vertrieben. Am südlichen Ende der Grube schmiegt sich ein kleiner grüner Fleck auf der Landkarte an: der Hambacher Forst. Das, was davon noch übrig ist. Weniger als ein Zehntel des ehemals etwa 5.500 Hektar großen Forstes stehen noch. Fraglich ist nur, wie lange noch. Auch ohne neue Rodungen könnte RWE den Tagebau noch einige Jahre lang weiter betreiben. Es läuft also ein Wettlauf zwischen dem absehbaren Ende der Braunkohleverstromung und der endgültigen Vernichtung des Waldes.
Gallien liegt gar nicht fern
Nur eine einstündige Fahrt mit Nahverkehrszügen von Bonn über Köln bis Buir und ein Fußweg von 30 Minuten trennen Bonn vom Hambacher Forst und Mordor. Mit einer Gruppe von 26 Personen machen wir uns am ersten Adventswochenende auf, bepackt mit Spenden – Essen, Werkzeug, Kleidung etc. – und neugierig darauf zu erfahren, wie die Waldschützer*innen ihren Protest und auch ganz einfach ihr Leben dort im Wald organisieren.
Lobo ist eine der Aktivist*innen, die im Hambacher Forst in Baumhäusern und Zelten leben und den Wald verteidigen. Mit allen Entbehrungen, die dazu gehören. Im Sommer mag es ja ganz angenehm sein, im Wald zu leben. Aber bei Temperaturen um die null Grad und klammer Feuchtigkeit in der Luft denken sich manche von uns bald „wie gut, dass ich später wieder nach Hause kann“. Bequem haben sie es dort wahrlich nicht, aber sie organisieren sich gut und passen aufeinander auf. „Skill sharing“ – also das Weitergeben von Kompetenzen – spielt eine große Rolle. In Gallien hängt entsprechend eine große Infotafel, die Knotentechniken erklärt, und es werden Kletterkurse angeboten. Manche kennen sich gut mit Medizin aus, sind Sanitäter und können bei gesundheitlichen Problemen helfen. Gut zu wissen.
„Jedes Baumhaus und jede Baumhaussiedlung hat einen Namen“, erklärt Lobo. Die Siedlungen heißen Gallien, Oaktown oder Westside Warriors – Englisch hört man übrigens häufiger, die Waldbewohner*innen kommen inzwischen aus mehreren Nationen. Die Baumhäuser – mittlerweile wohl weit über 30 – tragen Namen wie Whydah, Fuchur, Tower oder Rainbow. Sie sind alle so gebaut, dass sie die Bäume möglichst wenig beeinträchtigen – ohne Nägel in den Stamm zu schlagen, versteht sich. Außerdem gibt es noch „The Meadow“, eine Wiese am Waldrand, die den Aktivist*innen von einem privaten Gönner zur Verfügung gestellt wird. Dort finden sich eine Werkstatt, Küche, Vorratslager und auch ein paar Wohnwägen und Hütten, die nicht ganz so schwer zu besteigen sind wie die Baumhäuser – letztere sind zum Teil auf 15 Metern Höhe, eines sogar in luftigen 25 Metern. Der einzige Weg hinein und hinaus führt über Kletterseile. Nichts für Menschen mit Höhenangst. Aber die Aussicht dort oben soll genial sein.
Den „Tower“ (so genannt, weil er drei Stockwerke hat) dürfen wir uns von innen anschauen – er ist glücklicher Weise über einer Leiter leichter zugänglich. Muckelig warm haben sie es dort, es gibt Herd und Bollerofen, Bücherregale, Decken. Dort lässt es sich gut aushalten, auch bei Kälte und Regen. Vorausgesetzt man hat sich um ausreichend Feuerholz und eine volle Gasflasche gekümmert.
Es geht um mehr als den Wald
Lobo heißt eigentlich nicht Lobo und wenn man sie fragt, wie lange sie schon da ist, lautet die Antwort „eine ganze Weile“. Das gehört zu den Regeln, die sie untereinander vereinbart haben, um sich zu schützen. Keine echten Namen, keine Auskunft darüber, wer wie lange schon vor Ort ist. Außerhalb des schützenden Waldes vermummt man sich in der Regel, denn Überwachungskameras von RWE sind rund um die Uhr im Einsatz. Im Hambacher Forst ist eine Art kleiner Kosmos mit eigenen Regeln entstanden.
„Wir kämpfen hier gegen Kohle und Kapitalismus“, fasst Lobo es zusammen, „ein rassistisches System, das Menschen und Natur ausbeutet“. Sie wollen dagegen ein „horizontales“ Gesellschaftsmodell leben, in dem alle gleichwertig, autonom und eigenverantwortlich sind. Kapitalismus sei das Gegenteil von Eigenverantwortung, das führten ihnen auch manche Gespräche mit den RWE-Sicherheitskräften und Polizist*innen vor Augen. Einige von ihnen seien eigentlich auf ihrer Seite, könnten aber nicht anders handeln, als sie es tun, weil es ihr Job nicht zulässt. Die Versorgung ihrer Familie werde dabei oft als Grund genannt. Deshalb halten Waldbewohner*innen die Unabhängigkeit von Lohnarbeit auch für so wichtig.
Vieles entscheiden die Waldbewohner*innen gemeinsam im Plenum. Sogar wer wo schläft, denn die Baumhäuser gehören allen. So gibt es auch ein „Schlafplenum“, wo alle ihre Wünsche äußern können, wo sie gern die nächste Nacht verbringen möchten. „You see a job, you have a job“, lautet das Motto im Hambacher Forst. Sehr schön auch das Schild an der Outdoor-Küche: “Real anarchists wash their dishes. Not washing dishes creates hierarchy“. Wobei sich am gewünschten Ergebnis sicher noch etwas arbeiten lässt…
Was bleibt?
Wir sind genau am richtigen Tag in den Hambacher Forst gekommen: die neue Strandbar eröffnet. In einer gar nicht mal so fernen Zukunft soll um die Ecke im Tagebauloch der viertgrößte Badesee von NRW entstehen. Da kann man schon jetzt mal mit dem Feiern beginnen. Es ist wohl eher Galgenhumor, mit dem die Aktivist*innen diese Aktion begehen. Denn die Zuversicht, dass sie dieses letzte Stück des Hambacher Forstes retten können, schwindet zusehends. „Ich dachte schon mal, wir haben es geschafft und der Wald ist gerettet. Aber dann kam das Gerichtsurteil und RWE fing direkt wieder mit den Rodungen an“, sagt Lobo kurz bevor sie sich zum Aufwärmen nach Gallien zurückzieht und wir unseren Heimweg antreten. Der BUND klagt auf Unterschutzstellung des ökologisch wertvollen Gebietes und fordert eine FFH-Gebiets-Prüfung. Das Oberverwaltungsgericht Köln hat die letzten Rodungen durch RWE nach zwei Tagen am 28.11. vorerst gestoppt. Voraussichtlich schweigen die Kettensägen nun bis Ende des Jahres. Doch was passiert dann?
Der Hambacher Forst, ein seltener Maiglöckchen-Stieleichen-Hainbuchen-Wald, 12.000 Jahre alt, Habitat der vom Aussterben bedrohten Bechsteinfledermaus und vieler weiterer seltener Fledermausarten, könnte schon bald dem Erdboden gleichgemacht werden. Weil RWE weiterhin auf eine Technologie setzt, deren Ende absehbar ist. Bis Mitte des Jahrhunderts muss unsere Wirtschaft dekarbonisiert sein, sprich: ohne fossile Brennstoffe funktionieren. Für den Energiesektor heißt das, die Kohleverstromung muss bereits 2030 enden und die dreckigsten Kohlekraftwerke müssen schon in den nächsten Jahren geschlossen werden. Warum setzt RWE also weiterhin auf die maximale Ausbeutung der Braunkohleflöze im Hambacher Tagebau, obwohl der Brennstoff größtenteils im Boden bleiben sollte? Wann sieht RWE endlich ein, dass sie ein totes Pferd reiten und besser absteigen sollten? RWE lässt derweil die Fledermaus-Bruthöhlen in den Bäumen zukleben, damit keine Fledermäuse mehr hineinkönnen. Eine andere Art der Vertreibung.
Was bleibt von diesem Ausflug, ist vor allem Respekt vor der Konsequenz, mit der die Menschen im Hambacher Forst dafür kämpfen, dass es einen gesellschaftlichen Wertewandel gibt und wir unsere Mitwelt nicht weiter aus Profitgründen ausbeuten. Wer von uns wäre bereit dazu, so viel aufzugeben und aufs Spiel zu setzen?
Text: Daniela Baum, mit Beiträgen von Raphael Holland
Fotos: Titelfoto und „Tower“ Andi Rüther, alle anderen Daniela Baum
Weitere Fotos vom Ausflug findet ihr bei Flickr.
Wer die Menschen im Hambacher Forst unterstützen oder sich über aktuelle Entwicklungen mitkriegen möchte, findet alles Wichtige auf der Homepage https://hambacherforst.org. Besonders empfehlenswert sind übrigens die Führungen durch den Hambacher Forst von Michael Zobel, der sich seit vielen Jahren dort engagiert und sich bestens auskennt.